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Zug-Zwang

Editorial Team

Seit ich wegen meines Studiums in eine andere Stadt gezogen bin, fahre ich fast wöchentlich mit dem Zug zwischen alter und neuer Heimat hin und her. Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt und es macht mir nichts aus. Klar, mit Verspätungen hier und da muss man immer rechnen. Auch mal mit Zug-Ausfällen. Alles kein Problem. Bislang konnte ich die Leute, die ständig über die Bahn gemeckert haben, nie verstehen. Ich fand das alles nicht so dramatisch. Bis zu einem Vorfall Mitte Dezember 2010. Ich wollte wie üblich über das Wochenende nach Hause fahren. Durch starken Schneefall war es schon die ganze Woche zu Problemen im Schienenverkehr gekommen und so musste auch ich am Bahnhof dann feststellen, dass mein Zug an diesem Tag gar nicht fahren würde. Ich musste also auf eine andere Verbindung ausweichen…

 

…die zwar länger dauern, mich aber trotzdem ans Ziel bringen würde.

 

So war zumindest der Plan. Der erste Teil der Strecke verlief dann auch ganz problemlos, dann musste ich aber in einen anderen Zug umsteigen. Ich war knapp dran, erwischte ihn aber gerade noch und quetschte mich erleichtert zwischen die anderen vielen Menschen, die sich hinter den Türen zusammendrängten. Einen Sitzplatz zu bekommen wäre utopisch gewesen, also stand ich eingepfercht zwischen Toilette und Treppenaufgang. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon komplett fertig mit den Nerven und wollte nur noch so schnell wie möglich nach Hause. Wir fuhren circa 500 Meter weit, als plötzlich Lichtblitze zu beiden Seiten des Zuges aufleuchteten und wir abrupt stehen blieben. Dann gingen die Lichter im Zug aus. Und ich war in Todespanik. Auch die prompte Durchsage des Lokführers machte die Situation nicht unbedingt besser: „Sehr geehrte Fahrgäste, soeben sind die Oberleitungen gerissen.

 

Die Weiterfahrt wird sich um unbestimmte Zeit verzögern. Ein wichtiger Sicherheitshinweis: Der Zug steht aktuell unter Strom, wir bitten Sie deshalb sämtliche Türen geschlossen zu halten, da ansonsten Lebensgefahr besteht.“ Sofort fingen alle meine Mitfahrer an, hektisch durcheinander zu reden. Ich war einfach nur starr vor Schreck. Mittlerweile war das Licht zwar wieder an, aber mir gingen trotzdem die schlimmsten Todesszenarien durch den Kopf. Ein ankommender Zug, der uns zu spät bemerkt und uns rammt. Die ganze Nacht in dem engen Abteil eingesperrt sein und schließlich qualvoll ersticken. Durchgedrehte Fahrgäste, die aufeinander losegehen. Das waren alles sehr beunruhigende Gedanken.

Nicht jedem schien der Ernst der Lage aber so bewusst zu sein wie mir. Nach den ersten fünf Minuten des Wartens drängelte sich ein angetrunkener Mann durch das Abteil zur Toilette, in der Hand eine Packung Zigaretten. Er sperrte sich in dem winzigen Raum ein und ward danach nicht mehr gesehen. Ein anderer unangenehmer Herr, der natürlich direkt neben mir stand, fühlte sich auf einmal dazu berufen das ganze Zugabteil zu unterhalten. Er gab einen geschmacklosen “Witz“ nach dem anderen zum Besten und genoss es offensichtlich sehr, zur Abwechslung mal ein Publikum zu haben, das nicht weglaufen konnte. Es fanden sich sogar einige Humor-Legastheniker, die den grauenhaften Witzen etwas abgewinnen konnten und dies durch unnötig laute und ziemlich nervtötende Lachsalven zum Ausdruck bringen mussten. Ich war irgendwann kurz davor freiwillig die Türen aufzureißen und mich aus dem Zug zu stürzen, so untragbar war die Situation. Der ganze Spaß dauerte geschlagene zwei Stunden an, bis endlich eine Ersatzlok beschafft werden konnte, die uns wieder die 500 Meter zurück in den Bahnhof ziehen konnte. Als ich endlich aussteigen konnte war ich erledigt und fertig mit den Nerven.


Das Schlimmste war gar nicht die immer wieder kurz aufsteigende Panik oder die lange Wartezeit. Nein, viel schlimmer war es stundenlang mit Leuten eingesperrt zu sein, die man normalerweise keine fünf Minuten ertragen würde – und auch nicht müsste. Es ist doch erstaunlich was man alles überstehen kann, wenn man dazu gezwungen ist. Definitiv eine interessante Erkenntnis. Aber durchaus eine, auf die ich hätte verzichten können.